Laurent Vernhes, Mitbegründer und CEO von Tablet, besuchte vor kurzem die ehemalige sowjetische Republik Georgien. Dort entdeckte er einzigartigen Wein, unglaubliche Berge und ein Land, das endlich die Aufmerksamkeit erhält, die es verdient.
Jedes Jahr verreise ich allein mit einem meiner Kinder, nur wir zwei, auf abwechselnder Basis. Sie dürfen dann das Reiseziel wählen unter der einzigen Bedingung, dass ich noch nicht dort gewesen sein darf, so dass wir beide gleichermaßen bei null anfangen und wir beide die gleiche, steile Lernkurve haben. Dieses Jahr war mein Teenager-Sohn Sébastien dran und er entschied sich für Georgien. Somit kann ich meinem Sohn danken, nicht nur dafür, dass ich endlich diese außergewöhnliche Ecke der Welt kennenlernen durfte, sondern auch, dass ich mich überhaupt an diesen Trip erinnere. Georgier sind sehr passionierte Gastgeber, die nichts mehr zu genießen scheinen, als Wein und chacha – das sind Shots georgischen Brandys – ohne Unterlass auszuschenken und dabei die Nacht mit singenden, deliranten Trinksprüchen zu bereichern. Es wäre wirklich verlockend gewesen, wenn mein Sohn nicht dabei gewesen wäre, um mich vom Ärger fernzuhalten.
Als Mitbegründer einer Reisefirma werde ich häufig gefragt, was die nächste “heiße” Destination sein wird. Ich verbringe viel Zeit meines Lebens in den großen Städten der Welt – ich lebe in einer von ihnen – und muss daher sagen, dass es mir beim Wegfahren darum geht, den Massen und dem Hype zu entkommen und Orten, die lange Zeit ignoriert wurden, eine Chance zu geben. Georgien ist mittlerweile für Reisende geöffnet. Etwas, das lange Zeit meines Lebens nicht der Fall war. Und sein langsames, aber stetiges Wachsen aus dem Schatten, den die sowjetische und russische Dominanz geworfen hat, scheint mir ein glasklarer Fall dafür zu sein, dass einer der interessantesten Orte der Welt endlich die globale Anerkennung bekommt, die er schon immer verdient hat.
Die Beziehung zu Russland ist allerdings eher noch komplizierter geworden. Ein andauernder politischer Streit ist eskaliert und zwar bis zu einem Punkt, an dem Russland Airlines davon abgehalten hat, nach Tiflis zu fliegen. Damit wurde Georgien eines Großteils seines Tourismus beraubt. Wenn es also jemals den Zeitpunkt gab, zu dem Georgien Besucher aus anderen Ländern braucht, dann ist es jetzt. Abgesehen davon, ist es auch so eine optimale Zeit sich das Land anzusehen.
Geographisch gesehen steht das Land buchstäblich an einer Kreuzung, wenn auch mit einigen der tückischsten Bergstraßen überhaupt. Die Georgier sind stolz auf ihren Ruf als große Krieger, obwohl ihr Land durch die Geschichte hinweg von den persischen, türkischen, arabischen, mongolischen und russischen Völkern erobert wurde. Eine sehr beeindruckende Liste. Bis vor kurzem war Georgien nur für eine kurze Zeit im 13. Jahrhundert unabhängig, eine Ära, die in der georgischen Erinnerung als das goldene Zeitalter des Landes weiterlebt. Die georgische Geschichte und die Identität seiner Bewohner sind eng mit der lokalen Version des orthodoxen Christentums verbunden, die sich sowohl von der russischen als auch von der im benachbarten Armenien praktizierten Version unterscheidet. All das ist eine echte interkulturelle Erfahrung: würde man mit verbundenen Augen hierher gebracht und stünde nicht vor einer der charakteristischen Kirchen, hätte man echte Schwierigkeiten zu erkennen, ob man sich in Europa, Asien oder irgendwo anders befindet. Das Land hat für jeden etwas zu bieten, von Abenteuern im Kaukasus bis hin zur Gastroszene in Tiflis, die ein Paradies für abenteuerlustige Esser und Trinker ist.
Aber zuerst: die Berge. Die Kaukasuskette erstreckt sich über die gesamte Länge des Landes und bedeckt so viel Fläche wie die Alpen, reicht aber viel höher und überragt das Umland noch dramatischer. Das Skifahren und Snowboarden ist natürlich unglaublich, und Sébastien und ich haben einige spektakuläre Tage auf den Pisten in Gudauri verbracht. Wer sich in irgendeiner Weise für die Berge interessiert, der muss Georgien auf seine Liste setzen.
Wir besuchten auch das Stalin Museum in der Stadt Gori, in der Stalin geboren wurde. Es ist nicht mehr wirklich ein Denkmal für Stalin selbst, sondern etwas viel Interessanteres: ein Museum eines Museums. Es wurde also alles genau so belassen, wie es 1989 war, und obwohl es definitiv ein post-stalinisches sowjetisches Denkmal war, fühlt es sich jetzt wie ein ironischer Kommentar zur Propaganda und zur vielschichtigen Verfälschung der Geschichte an. So etwas habe ich noch nie gesehen.
Georgien gibt sich nicht damit zufrieden, die höchsten Berge Europas zu haben (je nachdem, wo die Grenze zu Asien verläuft), sondern brüstet sich auch damit, die älteste Weinkultur der Welt zu besitzen, und die jüngsten archäologischen Funde untermauern diese Behauptung: Die frühesten georgischen Weine wurden um 8.000 v. Chr. datiert und schlugen Armenien nach der letzten Zählung um ein paar Jahrtausende. Die Landschaft ist mit einer großen Anzahl von Weinbergen übersät, in denen etwa 500 einheimische Rebsorten angebaut werden. Tiflis hat bei weitem mehr Weinhandlungen als Paris. Bei guten Weinen geht es immer um die Geschichte dahinter. Als weinbesessener Franzose habe ich mich natürlich auf die Suche gemacht, um herauszufinden, was diese jahrhundertealten Traditionen aus den einheimischen Trauben gewinnen können.
Viele der Weine sind das Werk von Hobbywinzern – hier stellt fast jeder, der auf dem Land lebt, seinen eigenen Wein her – und die professionell betriebenen Weinberge waren zu Sowjetzeiten nicht der internationalen Konkurrenz ausgesetzt. Ich hatte erwartet, dass es ein wenig dauern würde, bis sich mein Gaumen an eine neue Geschmackspalette gewöhnen würde, aber einige dieser Flaschen waren sofort zufriedenstellend. Darunter waren einige süße Rot- und Orangenweine (die durch längeren Kontakt mit der Haut der Traube hergestellt werden), eine alte Tradition in Georgien, die in letzter Zeit unter innovativen Winzern in Westeuropa hip geworden ist. Die traditionellste lokale Methode ist die Gärung des Weins in Amphoren oder Tontöpfen anstelle von Holzfässern oder Stahltanks. Sogar in Frankreich, wo man immer auf der Suche nach einer neuen Methode in der Weinherstellung ist, verwenden einige trendige Winzer mittlerweile Amphoren, aber die Georgier sind die wahren Meister dieser Methode.
Hier kommen einige Empfehlungen, nach denen man sich beim nächsten Besuch beim Weinhändler seines Vertrauens erkundigen kann: Giuaani “Perle du Caucase” Mtsvane Qvevri 2016, Lukasi Kisi 2014 & Saperavi 2015, Orgo Saperavi 2017, und Shumi Iberiuli Kindzmarauli Halbtrocken Premium 2017. Und so ganz generell: Chateau Mukhrani Saperavis ist ein großer Winzer mit einem weiten Liefergebiet. Die Weine von dort sind etwas vorhersehbarer aber immer noch unglaublich hochwertig.
Die weniger beeindruckenden georgischen Weine können zwar immer noch gut im Geschmack sein, aber sie profitieren vor allem davon, zu georgischen Speisen getrunken zu werden – ein weiterer ausgezeichneter Grund für einen Besuch. Jedes Land mit einer solchen Vielfalt an kulturellen Einflüssen kann nicht umhin, eine einzigartige lokale Küche zu haben. Zu den Köstlichkeiten Georgiens gehören viele nahöstliche Geschmacksrichtungen, köstliche und riesige Fleischklöße vom Schwein, die von den Mongolen stammen, und Brot, das in vielen Formen, von naan-artig bis pizza-artig, angeboten wird und eigentlich nie enttäuscht. Das Grundnahrungsmittel Khachapuri, eine Art Hochleistungspizza ohne Sauce mit mehreren Käsesorten und manchmal einem Ei oben drauf, macht auf seltsame Weise süchtig.
Während unserer gesamten Reise haben wir unglaublich gut gegessen. Viele Empfehlungen gehen auf das Konto meiner Freundin Emily, aber einige Glückstreffer haben wir auch ganz eigenständig gelandet. Cafe Leila in der Altstadt von Tiflis ist ein köstliches vegetarisches Restaurant. Beim Culinarium handelt es sich um eine etwas schickere Variante, in der Küchenchef Tekuna moderne georgische Gerichte auf den Tisch bringt und diese damit aus dem Schatten der Sowjet-Zeit holt. Ein weiteres großartiges Restaurant ist das Pheasant’s Tears, in Sighnaghi, gelegen in der Weinregion Kakheti. Wenn man dort ist, muss man dieses Restaurant und das angrenzende Weingut besuchen.
Ein weiteres ausgezeichnetes Restaurant, auf das wir gestoßen sind, ist das Café Stamba im gleichnamigen Hotel. Damit sind wir in der Hotel-Szene angekommen. Die Tablet-Hotels in Georgien stammen von drei verschiedenen Marken, aber sie sind alle das Werk eines einzigen Hoteliers: Valeri Chekheria. Der talentierte Geschäftsmann scheint vor allem durch den Wunsch motiviert zu werden, ein guter Gastgeber zu sein. Es wäre leicht, die Fabrika in Tiflis mit den Freehand-Hotels zu vergleichen, mit ihrer hotelähnlichen Atmosphäre, dem Co-Working-Bereich in der Lobby und ihren Etagenbettzimmern. Die Rooms Hotels sind vielleicht mit den Ace Hotels vergleichbar, und das Stamba in Tiflis ist ein eher hochwertiges Boutique-Hotel. Dennoch handelt es sich hier nicht um Imitationen oder Nachahmungen. Rooms Tiflis ist nicht nur für Georgien cool, es ist cool, Punkt. Es würde sich in Brooklyn, dessen Stimmung der auch hier benannte Einfluss war, mehr als nur behaupten, und der Service bewegt sich in einer ganz anderen Klasse.
Stamba Hotel
Tiflis, Georgien
Das Stamba befindet sich in einem klassischen Gebäude aus den 30er Jahren und beherbergte einst ein berühmtes Verlagshaus. Die post-industrielle Patina gibt dem Gebäude eine ganz eigene visuelle Identität. Das wird auf perfekte Weise mit den surrealen Verzierungen wie den Bäumen, die im zentralen Atrium fünf Stockwerke hoch wachsen, geschmückt. Die Zimmer orientieren sich alle am Retro-Stil mit Kopfteilen aus Leder, Armaturen aus Messing und verwittert anmutenden Stoffen. Alle sind unprätentiös, verfügen aber dennoch über mehr als einen Hauch Luxus.
Rooms Hotel Tbilisi
Tiflis, Georgien
Das Rooms befindet sich in einem anderen Teil des gleichen ehemaligen Verlagshauses. Die Stimmung hier geht weniger in Richtung industriellem Chic. Die ausgeblichenen Perserteppiche und farbenfrohen Vintage-Stücke verleihen den Zimmern das Gefühl, das hier schon mal jemand gelebt hat. Nachdem man sich durch die traditionellen georgischen Weine an der Bar Room probiert hat, kann man sich in Ruhe aufs Zimmer zurückziehen. Breite Holzdielen, weiche Teppiche, handbemalte Tapeten, altertümliche Schreibtische, Kopfteile aus Leder und strahlende Kronleuchter bringen Wärme in die minimalistischen Zimmer, die einst durch kalten Stahl, Metall und Glas charakterisiert wurden.
Rooms Hotel Kazbegi
Stepanzminda, Georgien
Der Kaukasus ist ein außerordentliches Naturwunder, und in diesem Hotel ist die Architektur an den Stil einer traditionellen Berghütte angelehnt: luftige, offene Räume, vom Boden bis zur Decke reichende Fenster, gemütliche Ledersofas… Aber es gibt eine moderne und nachhaltig wirkende Wendung, mit Möbeln von Restoration Hardware und dem belgischen Label Flamant. Einheimisches Holz, Sichtziegel, alte Teppiche, klare Linien und retro-inspirierte Leuchten und Barhocker, Bücher zum Durchblättern, Globen zum Drehen: es ist also tatsächlich einiges mehr als das Haus eines Großvaters in den Bergen.
Fabrika Tbilisi
Tiflis, Georgien
Fabrika folgt einem Konzept, das jedem, der diese Art von Hotel schonmal gesehen hat, vertraut ist. Teils Boutique-Hotel, teils Hostel, teils Mehrzweck-Veranstaltungsraum, ein Hotel, in dem das gesellschaftliche Leben Vorrang vor traditionellen Vorstellungen von Luxus hat. Beim Gebäude, einer Textilfabrik aus der Sowjetzeit, handelt es sich um eine utilitaristische Betonstruktur, und das Äußere ist mehr oder weniger unbearbeitet geblieben. Graffiti und alles, was dazugehört, ist also noch zu sehen. Im Inneren haben sich die Architekten ihr Geld mehr als verdient und einen tristen Raum in etwas Lebendiges und Einladendes verwandelt.